Text Merle Krafeld
Fotos © Sarah Martin
Nach dem letzten Ton des Livestream-Konzerts des String Archestra beim antirassistischen CLINCH-Festival besteht Ensemble-Gründer*in Musik- und Theaterwissenchaftler*in Dr. Dr. Daniele G. Daude darauf, vor einem kleinen Talk erstmal alle Mitglieder vorzustellen: »Nadia, Eli und Neneh an der Geige, Adu und Yassin an der Bratsche, Angela und Frederico am Cello und unsere Konzertmeisterin und Solistin Sarah. Das sind ganz tolle Leute!« Vorher gab es eine sehr innige Version von Heitor Villa-Lobos Bachianas Brasileiras No. 4 zu hören, zwei gesangliche Sätze aus dem hochromantischen Streichquartett in h-Moll von Teresa Carreño, zwei energiegeladene Jahreszeiten (Primavera und Invierno) aus den Four Seasons de Buenos Aires von Astor Piazzolla und eine furiose Fuga Con Pajarillo von Aldemaro Romero – Musik von Komponist*innen of Color, gespielt von PoC und Schwarzen Musiker*innen. »Ich wollte mit Leuten spielen, mit denen ich mich wohlfühle«, fasst Daniele Daude die Idee hinter String Archestra zusammen. »Das ging vielen so.«
Selbst im Livestream ist die gute Stimmung zwischen den Musiker*innen greifbar, in den grinsenden Gesichtern, in den Blicken, die sich während der in anderen Streams manchmal etwas peinlichen applausfreien Pausen zwischen den Stücken zugeworfen werden. »Wir spielen eigentlich nicht in üblichen Konzerthäusern, sondern da, wo unser Publikum ist und wir auch selbst herkommen«, erklärt Daniele Daude einige Tage vorher im Video-Call. Das heißt: In Neukölln, Kreuzberg oder Schöneberg in Berlin. »Unser letztes richtiges Konzert war im Familiengarten, einem ganz tollen Community-Ort. Mit Rampe, im Erdgeschoss. Da kommen dann unsere Leute, Freund*innen, Familie.« Das Setting sei dort »nicht so musealisiert. Es ist einfach eine angenehme Atmosphäre, in der es nicht heißt: ›Oh Vorsicht, nicht zwischen den Sätzen klatschen.‹« Für gewöhnlich gibt Daniele Daude vor Live-Konzerten eine kleine Einführung in die Stücke, dann wird musiziert. Danach diskutieren Musiker*innen und Publikum die Werke – nicht als vorgegebener Programmpunkt, diese Gespräche entstehen einfach von selbst. So eine Beziehung zum Publikum findet Daniele Daude alles andere als selbstverständlich. »Ich spiele schon wirklich sehr lange Geige, aber ich musste Ende 30 sein, um so eine angenehme Stimmung beim Konzert zu erleben.«
Geige war Daniele Daudes erstes Studienfach: künstlerische Ausbildung mit ausgezeichnetem Abschluss in Kammermusik im Jahr 2001. Darauf folgte ein Musikwissenschaftsstudium in Paris, mittlerweile hat Daude zwei Doktortitel: einen in Musik- und einen in Theaterwissenschaften, lehrt an verschiedenen französischen und deutschen Universitäten und leitet einen Community-Chor mit People of Color. Außerdem spielt, moderiert, recherchiert und programmiert sie beim und für das String Archestra.
Zur Gründung dieses Ensembles gaben viele Ereignisse den Ausschlag: »Ich hatte es satt, immer die einzige zu sein«, meint Daniele Daude. ›Die einzige‹ heißt: die einzige Schwarze Musiker*in im Orchester, sowohl im Profi- als auch im semiprofessionellen und Amateurbereich. »Ganz besonders in den letzten zwei Berliner Amateur-Orchestern habe ich sehr unschöne rassistische Mobbing-Erfahrungen gemacht.« Die meldet Daniele Daude der Orchesterleitung und der entsprechenden Berliner Antidiskriminierungsstelle, aber es folgen keine Konsequenzen. »Da stand ich vor der Wahl: Klage ich? Ich hatte tatsächlich schon angefangen, alles dafür zu dokumentieren.« Bei einer Klage hätte eine Antidiskriminierungsstelle für klassische Musiker*innen geholfen, die es aber bis dato nicht gibt, erklärt Daniele Daude im Interview mit ndo – das postmigrantische Netzwerk. »Ich habe dann ein Jahr Pause gemacht und in einem anderen Orchester gespielt, dort eine Schwarze Musikerin kennengelernt. Wir sind schnell zusammengekommen und wollten eigentlich Streichquartette spielen. Dafür habe ich einen Aufruf auf Facebook gestartet: Wir suchen PoC und Schwarze Leute für Kammermusik.« Darauf folgte ein Ansturm von Antworten – nicht nur von Streicher*innen, sondern auch von Holz- und Blechbläser*innen aus ganz Deutschland. »Das war sehr ambivalent: Es ist natürlich toll, dass so viele Schwarze Menschen und PoC den Wunsch haben, zusammen zu spielen. Aber es ist auch traurig, dass der Bedarf so groß ist. Offensichtlich teilen viele die rassistischen Erfahrungen in Orchestern.« Daniele Daude startet das Ensemble 2016 aus ganz pragmatischen Erwägungen heraus an ihrem Wohnort in Berlin und mit der Besetzung, mit der sie am besten vertraut ist: Streichinstrumenten. Von fünf Musiker*innen wächst das String Archestra schnell auf 16 Mitglieder, aktuell sind pandemiebedingte zwölf aktive Musiker*innen dabei.
Das String Archestra spielt ausschließlich Repertoire von PoC und Schwarzen Komponist*innen. Mittlerweile gibt es in Europa mehrere Ensembles, in denen PoC und Schwarze Musiker:innen sich zusammenschließen, um klassische Musik zu spielen, beispielsweise das Chineke! Orchestra in Großbritannien. Daniele Daude kennt allerdings kein anderes Ensemble mit einem ähnlichen Repertoire-Schwerpunkt wie das String Archestra. Dafür das entsprechende Notenmateriel zu finden, verlangt einiges an musikwissenschaftlicher Recherchearbeit, bei der sie mittlerweile von Neneh Sowe (sinfonische Musik) und Gina Emerson (Classical Contemporary Music) unterstützt wird. Eine zentrale Frage ist immer, ob überhaupt Werke in spielbarer Form überliefert sind. Die Musik von klassischen Komponist*innen of Color, ob im 15. oder im 18. Jahrhundert, sind oft nur fragmentarisch erhalten. Die ältesten Werke im Repertoire des String Archestra stammen vom Chevalier de Saint-Georges (1739/45?–1799). Saint-Georges hat Daniele Daude auch als Hintergrund für unseren Videocall ausgewählt: ein Gemälde eines spektakulären Fechtkampfes zwischen dem Komponisten und der »Chevalier d’Éon«, einem Spion im Dienste der Königlichen Familie.
Dass dieser Fechtkampf es auf ein solches Ölgemälde geschafft hat, spricht für die Popularität der beiden unter Zeitgenoss*innen, trotzdem war für sie kein Platz in den Geschichtsbüchern. Saint-Georges Kompositionen findet man mittlerweile zum Teil tatsächlich sogar auf imslp, allerdings oft in Jahrhunderte alten Ausgaben, die schwer zu lesen und unmöglich in dieser Form zu musizieren sind. Diese Stücke so einzurichten, dass sie für das Ensemble spielbar sind, braucht darum gleichermaßen Zeit wie musikwissenschaftliches Knowhow.
Das Repertoire des String Archestras reicht von Saint-Georges bis in die zeitgenössische Musik. Bei aller stilistischer Vielfalt gibt es ein einendes Element: »Was ich am spannendsten finde an den Komponist*innen, die wir aussuchen: Sie waren nie nur Komponist*innen«, erklärt Daniele Daude. »Saint-Georges war berühmter Fechter, hatte eine Karriere beim Militär, hat sich engagiert gegen die Sklaverei in Frankreich, die nach der bürgerlichen Revolution von 1789 immer noch Bestand hatte. Er war eine politische Person. Genauso Teresa Carreño. Sie war der Revolution in Venezuela sehr nahe, im engen Kreis um Simón Bolívar. Florence Price war Teil der Harlem Renaissance. Alle waren sie politisch, involviert, haben keine art pour l’art gemacht.«
In dieser Idee, dass ›gute Kunst‹ immer autonom sein müsse, sieht Daniele Daude einen Teil einer bürgerlichen Ideologie, die die europäische Musikgeschichtsschreibung durchdringt und bestimmte Künstler*innen ausschließt. Zum Beispiel Samuel Coleridge-Taylor, der zu Lebzeiten (1875–1912) in Großbritannien und auch international als Komponist sehr bekannt und beliebt war. »Dann kommen die Musikwissenschaftler und schreiben Musikgeschichte. Sie können seinen Erfolg nicht übersehen. Aber die Artikel schrumpfen bei jeder neuen Auflage der Enzyklopädie. Und irgendwann sind sie weg.« Das Gleiche passiert unzähligen anderen PoC und Schwarzen Komponist*innen. »Und zwar aus dem einfachen Grund, dass die Menschen, die Musikgeschichte geschrieben haben, das lange aus der gleichen Perspektive heraus gemacht haben: über 50, weiß, männlich, cis, heterosexuell. Die haben ein Interesse daran, eine Geschichte zu konstruieren mit Protagonisten, die ihnen ähnlich sind, weil das in ihr Bild passt. Aber es gab Komponist*innen, es gab PoC und Schwarze Komponist*innen, die Menschen waren da, der Druck, sie zu sehen und zu spielen, wächst. Die Geschichte so glatt cis männlich weiß bürgerlich heterosexuell zu konstruieren – das wird immer mehr Arbeit.« Zum Teil wird Musikgeschichte aber auch 2021 noch an Hochschulen und Universitäten als weiße, männliche Fortschrittsgeschichte gelehrt. »Viele Studierende der Geschichtswissenschaft würden sich kaputtlachen, wenn sie sehen, wie manche musikhistorischen Seminare ablaufen – solche, die einen so genannten Überblick geben über ›die Musik‹«, vermutet Daniele Daude im Offene-Ohren-Podcast. Musikgeschichte als Fortschrittsgeschichte bis zur jeweiligen eigenen Gegenwart zu begreifen, ist immer noch verbreitet. Die Werke des Konzert- und Lehrkanons werden dabei als einzelne Stufen dieses kontinuierlichen Aufstiegs verstanden. »In den Geschichtswissenschaften ist stärker klar, dass man immer nur einen Teil von einem Teil von einem Teil betrachtet.« Und dass eine Fortschrittsgeschichte nur eine von vielen möglichen großen Rahmenerzählungen ist, um historische Ereignisse zu verknüpfen. Aber auch in der Musik war dieses große Narrativ nicht immer so dominant. »Erst im 18. Jahrhundert hat sich diese Fortschrittsgeschichte verfestigt«, erklärt Daniele Daude. »Davor gab es eine Zeit, in der Menschen wirklich bemüht waren, verschiedene Richtungen, alles, was da war, zu sammeln und zu archivieren. Das ist etwas ganz Anderes. In dem Moment, in dem eine Idee von Klassifizierung und Hierarchie dazukommt, bei der die weißen cis-Männer ganz oben an der Spitze stehen, werden Kriterien geschaffen, um Musik in ›genial‹ und ›irrelevant‹ einzuteilen. Aber wer relevant ist oder nicht, das wird einfach vorausgesetzt, die Kriterien werden nicht genannt. In jeder Zeit gab es verschiedene Werke und jede*r Komponist*in hat verschiedene Schaffensphasen. In diese Fortschrittsgeschichte passt aber immer nur ein Bruchteil der Werke von Komponisten. Wer kennt schon das Streichquartett von Verdi?«
Zu den bekannten Werken entwickelt sich demgegenüber jeweils eine eigene Interpretationsgeschichte. Dadurch bleiben sie in gewisser Weise aktuell und werden wieder und wieder gespielt und beforscht. »Es entsteht ein Diskurs um das Werk«, sagt Daniele Daude. »Und ob das mit einem Werk passiert oder nicht, hat ganz viel mit äußeren Umständen zu tun und nicht mit Qualität.« Als Beispiel dient ihr dabei ein Blick auf Mozart: »Wäre sein Frau Constanze nicht eine so krasse Managerin gewesen, wäre sein Werk vielleicht auch nicht mehr da. Ich finde es unprofessionell zu sagen, der Grund, dass Werke heute gespielt werden, ist, dass der Komponist genial war. Als ob ein Werk heute für sich alleine existieren könnte. Ein gutes Werk, das nicht gespielt wird, ist tot. Es existiert nur durch die Interpret*innen.«
Interpret*innen wie dem String Archestra, die Musik wie die von Yasushi Akutagawa wiederbeleben. »Ich hatte die Rechte für die Aufführung der Werke von Akutagawa für ein ganzes Jahr für ganz Deutschland inne, weil er sonst einfach gar nicht gespielt wird«, berichtet Daniele Daude. Akutagawa emigrierte 1954 illegal aus Japan in die Sowjetunion und freundete sich dort unter anderem mit Dmitri Schostakowitsch und Dmitri Kabalewski an. Seine Musik wurde in Russland veröffentlicht – er war der erste japanische Komponist, dessen Musik außerhalb Japans veröffentlicht wurde, ein Vorreiter. Trotzdem ist er heute fast vergessen. »Er hat Mitte des 20. Jahrhunderts eine Musik geschrieben, die gar nicht in den Korpus von Musik als Fortschrittsgeschichte passt, seine Musik ist im Prinzip tonal. In der heutigen Musikgeschichtsschreibung muss man, um überhaupt als zeitgenössische*r Komponist*in anzukommen, atonal komponieren oder Minimal Music machen. Ansonsten wird das Werk als neoklassistisch oder als Filmmusik abgetan, obwohl es so viele verschiedene Musikrichtungen gibt, die mit Tonalität hantieren ...« Das String Archestra schafft also möglicherweise auch die Basis für eine Interpretationsgeschichte der Werke in seinem Repertoire. »Das ist eine große Verantwortung – und da wollen wir nicht verkacken. Wir reflektieren die Werke viel, die Stile, die Geschichte.«
Nicht nur die Schwarzen und PoC-Komponist*innen verschwinden aus der Musikgeschichte – das gleiche gilt für die Interpret*innen. Zum Beispiel war Dean Dixon Chefdirigent des Hessischen Rundfunkt Sinfonie Orchesters 1961 bis 1974. »Warum ist er heute so unbekannt? Weil es keine Aufnahmen von ihm gibt. Und warum gibt es keine Aufnahmen von ihm? Deutsche Grammophon wollte ihn damals nicht auf dem Cover haben, als Schwarzer Dirigent. Es hat dann nur 20 Jahre gedauert, bis er völlig aus der Geschichte der Dirigent*innen in Deutschland verschwunden war, obwohl er damals sehr bekannt war.« Auch dass Beethoven seine Violinsonate in A-Dur op. 47 zunächst für den Schwarzen Geiger George Bridgetower komponierte, diese dann aber in der Erstausgabe umwidmete auf Rodolphe Kreutzer (unter dessen Namen das Stück extrem bekannt wurde, der es aber selbst nie spielte – im Gegensatz zu Bridgetower), gerät erst in den letzten paaren Jahren wieder in den Blick der deutschsprachigen Forschung.
Auch heute sind PoC und Schwarze Musiker*innen an den Musikhochschulen, erst recht aber auf den Klassikbühnen deutlich unterrepräsentiert. Chi Chi Nwanoku, Kontrabassistin und Gründerin des Chineke! Orchestra, gab 2016 bei einem Ted Talk einen Überblick über die entsprechenden Zahlen in Großbritannien: 6 Prozent der Absolvent*innen von Musikhochschulen sind Schwarze und Musiker*innen of Color, in Orchestern spielen dann aber nur noch 1 Prozent – trotz gleicher Qualifikationen wie die weißen Kolleg*innen. Für Deutschland gibt es zu rassistischer Diskriminierung keine solchen Studien. »Das ist nicht möglich, aus verfassungsrechtlichen Gründen«, erklärt Daniele Daude. »Es ist ein Erbe des Nationalsozialismus, dass solche Daten nicht erhoben werden können. Es gibt aber die Möglichkeit, Daten zu erheben, wenn wir nicht nach Minderheiten, sondern nach der Mehrheit fragen. Wir könnten schauen: Wer im Orchester ist weiß? Solange wir dazu keine Daten haben, können wir nicht konkret werden.« Das problematische Nadelöhr nach der Hochschule ist das Probespiel. »Oft entscheiden da die Stimmgruppen«, so Daniele Daude. »Und die wählen natürlich Leute, die ihnen sympathisch sind und das sind oft die, die ihnen ähnlich sind. Die männliche weiße Posaunen-Sektion sucht sich nicht die Schwarze Muslima aus. Es braucht deshalb eine unabhängige Stelle, die diese Vorgänge überprüft. Ohne Druck, ohne Statistik, ohne Quote, ohne unabhängige Antidiskriminierungsstelle passiert nichts. Aber der Druck steigt. Die Menschen wehren sich, wie Chloé Lopes Gomes.« Die Balletttänzerin hatte 2020 gegen rassistische Diskriminierung am Staatsballett in Berlin geklagt, recht bekommen und so Entschädigung und eine Verlängerung ihres Vertrags erwirkt.
Viele Kulturinstitutionen und Musikhochschulen denken, so scheint es, eine internationale Beleg- oder Studierendenschaft mache rassistische Einstellungen und Handlungen im eigenen Haus automatisch unmöglich. Darauf angesprochen meint Daniele Daude: Ein weißer US-Amerikaner oder eine weiße Französin machen ein Orchester zwar international, diese Musiker*innen sind aber nicht von Rassismus betroffen – im Gegensatz zu einem Schwarzen Deutschen. »›Deutsch-sein‹ bedeutet nicht ›weiß-sein‹. Das ist hier Realität, schon seit langem. Nicht-weiß-sein ist eine deutsche Angelegenheit.« Wenn Orchester meinen, sie seien durch Internationalität automatisch vor Rassismus gefeit, zeige das, dass diese Institutionen das Grundproblem nicht verstehen. Gleiches gilt, wenn die Einsicht fehlt, dass es bei rassistischer Diskriminierung immer auch um Macht geht und nicht nur um Vorurteile: »Da wird für mich immer wieder klar, dass überhaupt kein Verständnis da ist, was Rassismus und generell mehrfache Diskriminierungsformen bedeuten«, meint Daniele Daude, »Wenn ich Vorurteile gegenüber einer bestimmten Gruppe von Menschen habe und auch noch die Macht habe, diese Gruppen regelmäßig und systematisch auszuschließen, dann ist es eine institutionalisierte Diskriminierungsform.« Zur Reflektion der eigenen Institution oder Kunst empfiehlt Daude einen Überblick der Böll-Stiftung über 7 Dinge, die man tun kann, um das eigene Kunstschaffen weniger rassistisch zu gestalten. Aber sie betont auch: »Ich bin Musikwissenschaftlerin, ich bin keine Spezialistin für kritisches Weißsein. Alles, was ich darüber weiß, habe ich aus der Not heraus gelernt und gelesen, weil ich mich auch ständig weiterbilde.«
Auch mit der Berichterstattung für Klassikmedien hat das String Archestra keine guten Erfahrungen gemacht. Denen sei es allein um persönliche Diskriminierungserfahrungen gegangen, auf die die Ensemblemitglieder reduziert wurden. »Das tue ich mir und meinen Leuten nicht an«, sagt Daniele Daude im Offene-Ohren Podcast. »Ich brauche das nicht. Anerkennung brauche ich von Menschen, die mich wertschätzen und die ich auch wertschätze. Und diese Welt hat mehrmals gezeigt, dass das nicht der Fall ist.« Das String Archestra tritt darum bewusst zunächst nicht in etablierten Klassikinstitutionen auf. Die Konzertstreams des letzten Jahres stammen stattdessen vom Radical Mutation Festival im HAU in Berlin, das sich historischen und aktuellen Kämpfen für Gleichberechtigung, Antirassismus und Diversität in Kultur widmet, oder dem Rom*nja Power Month. Kommentiert wird im Livestream eifrig auf Englisch, Spanisch, Portugiesisch, Deutsch … »Wunderbar, euch wieder zu sehen!«, heißt es, mit vielen Herzen. Mittlerweile gibt es ein richtiges Stammpublikum, Menschen, die immer wieder dem String Archestra lauschen, sich in den großen Konzerthäusern aber zum Teil nicht willkommen fühlen, erzählt Daniele Daude. Sie empfindet eine so direkte Verbindung zu einem so wohlwollenden Publikum als großen Luxus. Es gibt keine Kluft zwischen Zuhörenden und Publikum, die Stimmung ist entspannt, nach dem Konzert gehen alle gemeinsam etwas trinken. Das Gemeinschaftsstiftende ist auch Teil des Ensemblenamens: »›Archestra‹, wie ›Arche‹. Das hat etwas von der Arche Noah: Alle zusammen schaffen wir etwas Neues, selbst wenn die Sintflut kommt.« Zumindest in den USA wird das String Archestra außerdem sofort mit Sun Ras Arkestra assoziiert. Sun Ra war Daudes erster Kontakt mit Afrofuturismus. »Ich war total gefälscht von dieser Ästhetik und diesem ganzen Diskurs. Ich war so 20. Das ist auch ein Beispiel dafür, dass Musik nicht für sich steht, sondern eine ganze Welt um sich erschafft.«
Der Musikkosmos, den das String Archestra eröffnet, wird in Zukunft noch stärker um zeitgenössische Komponist*innen erweitert, zum Beispiel Anthony R. Green oder Shannon Sea. Auch das erste Konzert der britischen Komponist*in und Cellist*in Ayanna Witter-Johnson in Deutschland wird das Ensemble bestreiten. Am 6. Juni spielt das String Archestra außerdem in der Elbphilharmonie in Hamburg, wo es den TONALi-Award verliehen bekommt. Und natürlich wird auch danach weiter konzertiert und geprobt. Auf die Probenarbeit des String Archestra angesprochen meint Daniele Daude: »Der einzige Unterschied bei den Proben im Vergleich zu anderen Ensembles ist, dass wir uns mögen. Aber das macht einen großen Unterschied. Wenn du mit Leuten spielst, auf die du dich freust, macht das was mit dir. Und es macht auch was mit der Musik.« ¶
Text Merle Krafeld
Fotos © Sarah Martin
Nach dem letzten Ton des Livestream-Konzerts des String Archestra beim antirassistischen CLINCH-Festival besteht Ensemble-Gründer*in Musik- und Theaterwissenchaftler*in Dr. Dr. Daniele G. Daude darauf, vor einem kleinen Talk erstmal alle Mitglieder vorzustellen: »Nadia, Eli und Neneh an der Geige, Adu und Yassin an der Bratsche, Angela und Frederico am Cello und unsere Konzertmeisterin und Solistin Sarah. Das sind ganz tolle Leute!« Vorher gab es eine sehr innige Version von Heitor Villa-Lobos Bachianas Brasileiras No. 4 zu hören, zwei gesangliche Sätze aus dem hochromantischen Streichquartett in h-Moll von Teresa Carreño, zwei energiegeladene Jahreszeiten (Primavera und Invierno) aus den Four Seasons de Buenos Aires von Astor Piazzolla und eine furiose Fuga Con Pajarillo von Aldemaro Romero – Musik von Komponist*innen of Color, gespielt von PoC und Schwarzen Musiker*innen. »Ich wollte mit Leuten spielen, mit denen ich mich wohlfühle«, fasst Daniele Daude die Idee hinter String Archestra zusammen. »Das ging vielen so.«
Selbst im Livestream ist die gute Stimmung zwischen den Musiker*innen greifbar, in den grinsenden Gesichtern, in den Blicken, die sich während der in anderen Streams manchmal etwas peinlichen applausfreien Pausen zwischen den Stücken zugeworfen werden. »Wir spielen eigentlich nicht in üblichen Konzerthäusern, sondern da, wo unser Publikum ist und wir auch selbst herkommen«, erklärt Daniele Daude einige Tage vorher im Video-Call. Das heißt: In Neukölln, Kreuzberg oder Schöneberg in Berlin. »Unser letztes richtiges Konzert war im Familiengarten, einem ganz tollen Community-Ort. Mit Rampe, im Erdgeschoss. Da kommen dann unsere Leute, Freund*innen, Familie.« Das Setting sei dort »nicht so musealisiert. Es ist einfach eine angenehme Atmosphäre, in der es nicht heißt: ›Oh Vorsicht, nicht zwischen den Sätzen klatschen.‹« Für gewöhnlich gibt Daniele Daude vor Live-Konzerten eine kleine Einführung in die Stücke, dann wird musiziert. Danach diskutieren Musiker*innen und Publikum die Werke – nicht als vorgegebener Programmpunkt, diese Gespräche entstehen einfach von selbst. So eine Beziehung zum Publikum findet Daniele Daude alles andere als selbstverständlich. »Ich spiele schon wirklich sehr lange Geige, aber ich musste Ende 30 sein, um so eine angenehme Stimmung beim Konzert zu erleben.«
Geige war Daniele Daudes erstes Studienfach: künstlerische Ausbildung mit ausgezeichnetem Abschluss in Kammermusik im Jahr 2001. Darauf folgte ein Musikwissenschaftsstudium in Paris, mittlerweile hat Daude zwei Doktortitel: einen in Musik- und einen in Theaterwissenschaften, lehrt an verschiedenen französischen und deutschen Universitäten und leitet einen Community-Chor mit People of Color. Außerdem spielt, moderiert, recherchiert und programmiert sie beim und für das String Archestra.
Zur Gründung dieses Ensembles gaben viele Ereignisse den Ausschlag: »Ich hatte es satt, immer die einzige zu sein«, meint Daniele Daude. ›Die einzige‹ heißt: die einzige Schwarze Musiker*in im Orchester, sowohl im Profi- als auch im semiprofessionellen und Amateurbereich. »Ganz besonders in den letzten zwei Berliner Amateur-Orchestern habe ich sehr unschöne rassistische Mobbing-Erfahrungen gemacht.« Die meldet Daniele Daude der Orchesterleitung und der entsprechenden Berliner Antidiskriminierungsstelle, aber es folgen keine Konsequenzen. »Da stand ich vor der Wahl: Klage ich? Ich hatte tatsächlich schon angefangen, alles dafür zu dokumentieren.« Bei einer Klage hätte eine Antidiskriminierungsstelle für klassische Musiker*innen geholfen, die es aber bis dato nicht gibt, erklärt Daniele Daude im Interview mit ndo – das postmigrantische Netzwerk. »Ich habe dann ein Jahr Pause gemacht und in einem anderen Orchester gespielt, dort eine Schwarze Musikerin kennengelernt. Wir sind schnell zusammengekommen und wollten eigentlich Streichquartette spielen. Dafür habe ich einen Aufruf auf Facebook gestartet: Wir suchen PoC und Schwarze Leute für Kammermusik.« Darauf folgte ein Ansturm von Antworten – nicht nur von Streicher*innen, sondern auch von Holz- und Blechbläser*innen aus ganz Deutschland. »Das war sehr ambivalent: Es ist natürlich toll, dass so viele Schwarze Menschen und PoC den Wunsch haben, zusammen zu spielen. Aber es ist auch traurig, dass der Bedarf so groß ist. Offensichtlich teilen viele die rassistischen Erfahrungen in Orchestern.« Daniele Daude startet das Ensemble 2016 aus ganz pragmatischen Erwägungen heraus an ihrem Wohnort in Berlin und mit der Besetzung, mit der sie am besten vertraut ist: Streichinstrumenten. Von fünf Musiker*innen wächst das String Archestra schnell auf 16 Mitglieder, aktuell sind pandemiebedingte zwölf aktive Musiker*innen dabei.
Das String Archestra spielt ausschließlich Repertoire von PoC und Schwarzen Komponist*innen. Mittlerweile gibt es in Europa mehrere Ensembles, in denen PoC und Schwarze Musiker:innen sich zusammenschließen, um klassische Musik zu spielen, beispielsweise das Chineke! Orchestra in Großbritannien. Daniele Daude kennt allerdings kein anderes Ensemble mit einem ähnlichen Repertoire-Schwerpunkt wie das String Archestra. Dafür das entsprechende Notenmateriel zu finden, verlangt einiges an musikwissenschaftlicher Recherchearbeit, bei der sie mittlerweile von Neneh Sowe (sinfonische Musik) und Gina Emerson (Classical Contemporary Music) unterstützt wird. Eine zentrale Frage ist immer, ob überhaupt Werke in spielbarer Form überliefert sind. Die Musik von klassischen Komponist*innen of Color, ob im 15. oder im 18. Jahrhundert, sind oft nur fragmentarisch erhalten. Die ältesten Werke im Repertoire des String Archestra stammen vom Chevalier de Saint-Georges (1739/45?–1799). Saint-Georges hat Daniele Daude auch als Hintergrund für unseren Videocall ausgewählt: ein Gemälde eines spektakulären Fechtkampfes zwischen dem Komponisten und der »Chevalier d’Éon«, einem Spion im Dienste der Königlichen Familie.
Dass dieser Fechtkampf es auf ein solches Ölgemälde geschafft hat, spricht für die Popularität der beiden unter Zeitgenoss*innen, trotzdem war für sie kein Platz in den Geschichtsbüchern. Saint-Georges Kompositionen findet man mittlerweile zum Teil tatsächlich sogar auf imslp, allerdings oft in Jahrhunderte alten Ausgaben, die schwer zu lesen und unmöglich in dieser Form zu musizieren sind. Diese Stücke so einzurichten, dass sie für das Ensemble spielbar sind, braucht darum gleichermaßen Zeit wie musikwissenschaftliches Knowhow.
Das Repertoire des String Archestras reicht von Saint-Georges bis in die zeitgenössische Musik. Bei aller stilistischer Vielfalt gibt es ein einendes Element: »Was ich am spannendsten finde an den Komponist*innen, die wir aussuchen: Sie waren nie nur Komponist*innen«, erklärt Daniele Daude. »Saint-Georges war berühmter Fechter, hatte eine Karriere beim Militär, hat sich engagiert gegen die Sklaverei in Frankreich, die nach der bürgerlichen Revolution von 1789 immer noch Bestand hatte. Er war eine politische Person. Genauso Teresa Carreño. Sie war der Revolution in Venezuela sehr nahe, im engen Kreis um Simón Bolívar. Florence Price war Teil der Harlem Renaissance. Alle waren sie politisch, involviert, haben keine art pour l’art gemacht.«
In dieser Idee, dass ›gute Kunst‹ immer autonom sein müsse, sieht Daniele Daude einen Teil einer bürgerlichen Ideologie, die die europäische Musikgeschichtsschreibung durchdringt und bestimmte Künstler*innen ausschließt. Zum Beispiel Samuel Coleridge-Taylor, der zu Lebzeiten (1875–1912) in Großbritannien und auch international als Komponist sehr bekannt und beliebt war. »Dann kommen die Musikwissenschaftler und schreiben Musikgeschichte. Sie können seinen Erfolg nicht übersehen. Aber die Artikel schrumpfen bei jeder neuen Auflage der Enzyklopädie. Und irgendwann sind sie weg.« Das Gleiche passiert unzähligen anderen PoC und Schwarzen Komponist*innen. »Und zwar aus dem einfachen Grund, dass die Menschen, die Musikgeschichte geschrieben haben, das lange aus der gleichen Perspektive heraus gemacht haben: über 50, weiß, männlich, cis, heterosexuell. Die haben ein Interesse daran, eine Geschichte zu konstruieren mit Protagonisten, die ihnen ähnlich sind, weil das in ihr Bild passt. Aber es gab Komponist*innen, es gab PoC und Schwarze Komponist*innen, die Menschen waren da, der Druck, sie zu sehen und zu spielen, wächst. Die Geschichte so glatt cis männlich weiß bürgerlich heterosexuell zu konstruieren – das wird immer mehr Arbeit.« Zum Teil wird Musikgeschichte aber auch 2021 noch an Hochschulen und Universitäten als weiße, männliche Fortschrittsgeschichte gelehrt. »Viele Studierende der Geschichtswissenschaft würden sich kaputtlachen, wenn sie sehen, wie manche musikhistorischen Seminare ablaufen – solche, die einen so genannten Überblick geben über ›die Musik‹«, vermutet Daniele Daude im Offene-Ohren-Podcast. Musikgeschichte als Fortschrittsgeschichte bis zur jeweiligen eigenen Gegenwart zu begreifen, ist immer noch verbreitet. Die Werke des Konzert- und Lehrkanons werden dabei als einzelne Stufen dieses kontinuierlichen Aufstiegs verstanden. »In den Geschichtswissenschaften ist stärker klar, dass man immer nur einen Teil von einem Teil von einem Teil betrachtet.« Und dass eine Fortschrittsgeschichte nur eine von vielen möglichen großen Rahmenerzählungen ist, um historische Ereignisse zu verknüpfen. Aber auch in der Musik war dieses große Narrativ nicht immer so dominant. »Erst im 18. Jahrhundert hat sich diese Fortschrittsgeschichte verfestigt«, erklärt Daniele Daude. »Davor gab es eine Zeit, in der Menschen wirklich bemüht waren, verschiedene Richtungen, alles, was da war, zu sammeln und zu archivieren. Das ist etwas ganz Anderes. In dem Moment, in dem eine Idee von Klassifizierung und Hierarchie dazukommt, bei der die weißen cis-Männer ganz oben an der Spitze stehen, werden Kriterien geschaffen, um Musik in ›genial‹ und ›irrelevant‹ einzuteilen. Aber wer relevant ist oder nicht, das wird einfach vorausgesetzt, die Kriterien werden nicht genannt. In jeder Zeit gab es verschiedene Werke und jede*r Komponist*in hat verschiedene Schaffensphasen. In diese Fortschrittsgeschichte passt aber immer nur ein Bruchteil der Werke von Komponisten. Wer kennt schon das Streichquartett von Verdi?«
Zu den bekannten Werken entwickelt sich demgegenüber jeweils eine eigene Interpretationsgeschichte. Dadurch bleiben sie in gewisser Weise aktuell und werden wieder und wieder gespielt und beforscht. »Es entsteht ein Diskurs um das Werk«, sagt Daniele Daude. »Und ob das mit einem Werk passiert oder nicht, hat ganz viel mit äußeren Umständen zu tun und nicht mit Qualität.« Als Beispiel dient ihr dabei ein Blick auf Mozart: »Wäre sein Frau Constanze nicht eine so krasse Managerin gewesen, wäre sein Werk vielleicht auch nicht mehr da. Ich finde es unprofessionell zu sagen, der Grund, dass Werke heute gespielt werden, ist, dass der Komponist genial war. Als ob ein Werk heute für sich alleine existieren könnte. Ein gutes Werk, das nicht gespielt wird, ist tot. Es existiert nur durch die Interpret*innen.«
Interpret*innen wie dem String Archestra, die Musik wie die von Yasushi Akutagawa wiederbeleben. »Ich hatte die Rechte für die Aufführung der Werke von Akutagawa für ein ganzes Jahr für ganz Deutschland inne, weil er sonst einfach gar nicht gespielt wird«, berichtet Daniele Daude. Akutagawa emigrierte 1954 illegal aus Japan in die Sowjetunion und freundete sich dort unter anderem mit Dmitri Schostakowitsch und Dmitri Kabalewski an. Seine Musik wurde in Russland veröffentlicht – er war der erste japanische Komponist, dessen Musik außerhalb Japans veröffentlicht wurde, ein Vorreiter. Trotzdem ist er heute fast vergessen. »Er hat Mitte des 20. Jahrhunderts eine Musik geschrieben, die gar nicht in den Korpus von Musik als Fortschrittsgeschichte passt, seine Musik ist im Prinzip tonal. In der heutigen Musikgeschichtsschreibung muss man, um überhaupt als zeitgenössische*r Komponist*in anzukommen, atonal komponieren oder Minimal Music machen. Ansonsten wird das Werk als neoklassistisch oder als Filmmusik abgetan, obwohl es so viele verschiedene Musikrichtungen gibt, die mit Tonalität hantieren ...« Das String Archestra schafft also möglicherweise auch die Basis für eine Interpretationsgeschichte der Werke in seinem Repertoire. »Das ist eine große Verantwortung – und da wollen wir nicht verkacken. Wir reflektieren die Werke viel, die Stile, die Geschichte.«
Nicht nur die Schwarzen und PoC-Komponist*innen verschwinden aus der Musikgeschichte – das gleiche gilt für die Interpret*innen. Zum Beispiel war Dean Dixon Chefdirigent des Hessischen Rundfunkt Sinfonie Orchesters 1961 bis 1974. »Warum ist er heute so unbekannt? Weil es keine Aufnahmen von ihm gibt. Und warum gibt es keine Aufnahmen von ihm? Deutsche Grammophon wollte ihn damals nicht auf dem Cover haben, als Schwarzer Dirigent. Es hat dann nur 20 Jahre gedauert, bis er völlig aus der Geschichte der Dirigent*innen in Deutschland verschwunden war, obwohl er damals sehr bekannt war.« Auch dass Beethoven seine Violinsonate in A-Dur op. 47 zunächst für den Schwarzen Geiger George Bridgetower komponierte, diese dann aber in der Erstausgabe umwidmete auf Rodolphe Kreutzer (unter dessen Namen das Stück extrem bekannt wurde, der es aber selbst nie spielte – im Gegensatz zu Bridgetower), gerät erst in den letzten paaren Jahren wieder in den Blick der deutschsprachigen Forschung.
Auch heute sind PoC und Schwarze Musiker*innen an den Musikhochschulen, erst recht aber auf den Klassikbühnen deutlich unterrepräsentiert. Chi Chi Nwanoku, Kontrabassistin und Gründerin des Chineke! Orchestra, gab 2016 bei einem Ted Talk einen Überblick über die entsprechenden Zahlen in Großbritannien: 6 Prozent der Absolvent*innen von Musikhochschulen sind Schwarze und Musiker*innen of Color, in Orchestern spielen dann aber nur noch 1 Prozent – trotz gleicher Qualifikationen wie die weißen Kolleg*innen. Für Deutschland gibt es zu rassistischer Diskriminierung keine solchen Studien. »Das ist nicht möglich, aus verfassungsrechtlichen Gründen«, erklärt Daniele Daude. »Es ist ein Erbe des Nationalsozialismus, dass solche Daten nicht erhoben werden können. Es gibt aber die Möglichkeit, Daten zu erheben, wenn wir nicht nach Minderheiten, sondern nach der Mehrheit fragen. Wir könnten schauen: Wer im Orchester ist weiß? Solange wir dazu keine Daten haben, können wir nicht konkret werden.« Das problematische Nadelöhr nach der Hochschule ist das Probespiel. »Oft entscheiden da die Stimmgruppen«, so Daniele Daude. »Und die wählen natürlich Leute, die ihnen sympathisch sind und das sind oft die, die ihnen ähnlich sind. Die männliche weiße Posaunen-Sektion sucht sich nicht die Schwarze Muslima aus. Es braucht deshalb eine unabhängige Stelle, die diese Vorgänge überprüft. Ohne Druck, ohne Statistik, ohne Quote, ohne unabhängige Antidiskriminierungsstelle passiert nichts. Aber der Druck steigt. Die Menschen wehren sich, wie Chloé Lopes Gomes.« Die Balletttänzerin hatte 2020 gegen rassistische Diskriminierung am Staatsballett in Berlin geklagt, recht bekommen und so Entschädigung und eine Verlängerung ihres Vertrags erwirkt.
Viele Kulturinstitutionen und Musikhochschulen denken, so scheint es, eine internationale Beleg- oder Studierendenschaft mache rassistische Einstellungen und Handlungen im eigenen Haus automatisch unmöglich. Darauf angesprochen meint Daniele Daude: Ein weißer US-Amerikaner oder eine weiße Französin machen ein Orchester zwar international, diese Musiker*innen sind aber nicht von Rassismus betroffen – im Gegensatz zu einem Schwarzen Deutschen. »›Deutsch-sein‹ bedeutet nicht ›weiß-sein‹. Das ist hier Realität, schon seit langem. Nicht-weiß-sein ist eine deutsche Angelegenheit.« Wenn Orchester meinen, sie seien durch Internationalität automatisch vor Rassismus gefeit, zeige das, dass diese Institutionen das Grundproblem nicht verstehen. Gleiches gilt, wenn die Einsicht fehlt, dass es bei rassistischer Diskriminierung immer auch um Macht geht und nicht nur um Vorurteile: »Da wird für mich immer wieder klar, dass überhaupt kein Verständnis da ist, was Rassismus und generell mehrfache Diskriminierungsformen bedeuten«, meint Daniele Daude, »Wenn ich Vorurteile gegenüber einer bestimmten Gruppe von Menschen habe und auch noch die Macht habe, diese Gruppen regelmäßig und systematisch auszuschließen, dann ist es eine institutionalisierte Diskriminierungsform.« Zur Reflektion der eigenen Institution oder Kunst empfiehlt Daude einen Überblick der Böll-Stiftung über 7 Dinge, die man tun kann, um das eigene Kunstschaffen weniger rassistisch zu gestalten. Aber sie betont auch: »Ich bin Musikwissenschaftlerin, ich bin keine Spezialistin für kritisches Weißsein. Alles, was ich darüber weiß, habe ich aus der Not heraus gelernt und gelesen, weil ich mich auch ständig weiterbilde.«
Auch mit der Berichterstattung für Klassikmedien hat das String Archestra keine guten Erfahrungen gemacht. Denen sei es allein um persönliche Diskriminierungserfahrungen gegangen, auf die die Ensemblemitglieder reduziert wurden. »Das tue ich mir und meinen Leuten nicht an«, sagt Daniele Daude im Offene-Ohren Podcast. »Ich brauche das nicht. Anerkennung brauche ich von Menschen, die mich wertschätzen und die ich auch wertschätze. Und diese Welt hat mehrmals gezeigt, dass das nicht der Fall ist.« Das String Archestra tritt darum bewusst zunächst nicht in etablierten Klassikinstitutionen auf. Die Konzertstreams des letzten Jahres stammen stattdessen vom Radical Mutation Festival im HAU in Berlin, das sich historischen und aktuellen Kämpfen für Gleichberechtigung, Antirassismus und Diversität in Kultur widmet, oder dem Rom*nja Power Month. Kommentiert wird im Livestream eifrig auf Englisch, Spanisch, Portugiesisch, Deutsch … »Wunderbar, euch wieder zu sehen!«, heißt es, mit vielen Herzen. Mittlerweile gibt es ein richtiges Stammpublikum, Menschen, die immer wieder dem String Archestra lauschen, sich in den großen Konzerthäusern aber zum Teil nicht willkommen fühlen, erzählt Daniele Daude. Sie empfindet eine so direkte Verbindung zu einem so wohlwollenden Publikum als großen Luxus. Es gibt keine Kluft zwischen Zuhörenden und Publikum, die Stimmung ist entspannt, nach dem Konzert gehen alle gemeinsam etwas trinken. Das Gemeinschaftsstiftende ist auch Teil des Ensemblenamens: »›Archestra‹, wie ›Arche‹. Das hat etwas von der Arche Noah: Alle zusammen schaffen wir etwas Neues, selbst wenn die Sintflut kommt.« Zumindest in den USA wird das String Archestra außerdem sofort mit Sun Ras Arkestra assoziiert. Sun Ra war Daudes erster Kontakt mit Afrofuturismus. »Ich war total gefälscht von dieser Ästhetik und diesem ganzen Diskurs. Ich war so 20. Das ist auch ein Beispiel dafür, dass Musik nicht für sich steht, sondern eine ganze Welt um sich erschafft.«
Der Musikkosmos, den das String Archestra eröffnet, wird in Zukunft noch stärker um zeitgenössische Komponist*innen erweitert, zum Beispiel Anthony R. Green oder Shannon Sea. Auch das erste Konzert der britischen Komponist*in und Cellist*in Ayanna Witter-Johnson in Deutschland wird das Ensemble bestreiten. Am 6. Juni spielt das String Archestra außerdem in der Elbphilharmonie in Hamburg, wo es den TONALi-Award verliehen bekommt. Und natürlich wird auch danach weiter konzertiert und geprobt. Auf die Probenarbeit des String Archestra angesprochen meint Daniele Daude: »Der einzige Unterschied bei den Proben im Vergleich zu anderen Ensembles ist, dass wir uns mögen. Aber das macht einen großen Unterschied. Wenn du mit Leuten spielst, auf die du dich freust, macht das was mit dir. Und es macht auch was mit der Musik.« ¶
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OUTERNATIONAL wird kuratiert von Elisa Erkelenz und ist ein Kooperationsprojekt von PODIUM Esslingen und VAN Magazin im Rahmen des Fellowship-Programms #bebeethoven anlässlich des Beethoven-Jubiläums 2020 – maßgeblich gefördert von der Kulturstiftung des Bundes sowie dem Land Baden-Württemberg, der Baden-Württemberg Stiftung und der L-Bank.
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